Für die Opfer der "Euthanasie"-Verbrechen im Nationalsozialismus Baden-Württemberg

In Grafeneck begann im Jahr 1940 die sogenannte Aktion "T4". In einem Jahr wurden hier unter nationalsozialistischer Herrschaft 10.654 Menschen mit geistigen Behinderungen oder psychischen Erkrankungen ermordet. Heute existiert in Grafeneck eine Gedenkstätte und ein Dokumentationszentrum zur Erinnerung an die Opfer und gegen das Vergessen in den Diskussionen der Gegenwart.

Panoramabild des Schlosses Grafeneck im Jahr 1930. Zu sehen ist das drei-flügelige Schloss auf einer Anhöhe, umgeben von Wald.
Das Foto zeigt einen von der Reichspost der T4-Organisation überlassenen roten Bus. Die Aufnahme entstand bei einer der Deportationen von Heimbewohnern aus der Stiftung Liebenau nach Grafeneck im Herbst 1940. Im Vordergrund zu sehen sind mehrere Personen, darunter zwei Männer in weißen Mänteln, die Formulare auszufüllen scheinen. Am rechten Bildrand steht ein Mann mit einer weißen Schürze. Im Hintergrund steht ein roter Bus.
Zur Landwirtschaft gehörendes Gebäude ("Remise"), in das zur Jahreswende 1939/40 eine Gaskammer eingebaut wurde. Das Bild zeigt ein längliches, weißes Gebäude. Links am Gebäude befindet sich eine Tür, rechts daneben drei Tore aus Holz. Die beiden mittleren Tore sind geöffnet.

Theophil Wurm (1868-1953)

Kirchenpräsident (1929) und Landesbischof (1933) der Württembergischen Evangelischen Landeskirche

Theophil Wurm über eine Schreibmaschine gelehnt. Das Bild zeigt einen älteren Mann, der von der Seite fotografiert wurde. Blickrichtung links. Er hat lichtes Haar und einen weißen Schnauz- und Kinnbart. Er trägt eine schwarze Robe. Vor ihm steht eine Schreibmaschine, auf der er tippt.

Wurm nimmt wiederholt Stellung gegen die „Euthanasie“-Morde in Grafeneck. Am 6. Juli 1940 geht der Landesbischof in einem Schreiben an den Reichsminister für kirchliche Angelegenheiten, Kerrl - ohne Grafeneck direkt zu erwähnen - auf die ”Euthanasie” ein:

”Neben dem tiefen Dank, der uns gegen Gott, gegen Führer und Wehrmacht bewegt, konnte ich die Sorge nicht verschweigen, die auf allen christlichen Volksgenossen liegt angesichts so mancher Äusserungen und Handlungen in der letzten Zeit. [...] Eine weitere schwere Belastung für viele christliche Kreise sind die Massnahmen zur Lebensvernichtung, die gegenwärtig auf Anordnung des Reichsverteidigungsrats gegen Pfleglinge der staatlichen und privaten Heilanstalten ergriffen werden.”

Das am 19. Juli, also knapp zwei Wochen später an den Reichsinnenminister Frick gerichtete fünfseitige Schreiben wird bereits deutlicher. Wurm geht dort auf das Verfahren und das Ausmaß der Verlegungen ebenso ein wie auf die Beunruhigung, welche die Bevölkerung erfasst hatte:

”Durch zahlreiche Anfragen aus Stadt und Land und aus den verschiedensten Kreisen veranlasst, halte ich es für meine Pflicht, die Reichsregierung darauf aufmerksam zu machen, dass in unserem kleinen Lande diese Sache ganz grosses Aufsehen erregt. Zunächst einmal deshalb, weil sich eine der in Betracht kommenden Anstalten, das Schloss Grafeneck, in welcher die Pfleglinge eingeliefert werden und wo ein Krematorium und ein Standesamt errichtet worden ist, in Württemberg befindet. Grafeneck ist Eigentum einer Anstalt der Innneren Mission, der Samariterstiftung, die an verschiedenen Orten körperlich und geistig Behinderte seit vielen Jahren aufnimmt und verpflegt. Sie wurde bei Kriegsausbruch auf Weisung des württ. Innenministeriums in das Kloster Reutte in Oberschwaben verlegt; [...]. Das Schloß liegt auf einer Anhöhe der schwäbischen Alb inmitten eines spärlich bewohnten Waldgebiets. Umso aufmerksamer verfolgt die Bevölkerung der Umgegend die Vorgänge, die sich dort abspielen. Die Krankentransporte, die auf dem kleinen Bahnhof bei Marbach a.L. ausgeladen wurden, die Autobusse mit undurchsichtigen Fenstern, die die Kranken von entfernten Bahnhöfen oder unmittelbar von den Anstalten bringen, der aus dem Krematorium aufsteigende Rauch, der auch auf grössere Entfernungen wahrgenommen werden kann, - dies alles erregt die Gemüter um so mehr, als niemand Zutritt zu dem Schloß bekommt.”

Gegen die Tötung wehrloser Menschen machte Landesbischof Wurm in seinem Schreiben menschliche, religiöse und rechtliche Einwände geltend.

”Dass ein Volk für seine Existenz kämpft und dass keiner zu gut ist, um in diesem Existenzkampf sein Leben einzusetzen, das dürfen wir als Gottes Willen und Gebot ansehen; dass aber das Leben Schwacher und Wehrloser vernichtet wird, nicht weil sie eine Gefahr für uns sind, sondern weil wir dessen überdrüssig sind, sie zu ernähren und zu pflegen - das ist gegen Gottes Gebot.”

In letzter Instanz begründete der Landesbischof seinen Einspruch mit der Sorge um das Gemeinwesen und damit auch um den Bestand des Staatswesens:

”Wenn die Jugend sieht, daß dem Staat des Leben nicht mehr heilig ist, welche Folgerungen wird sie daraus für das Privatleben ziehen? Kann nicht jedes Rohheitsverbrechen damit begründet werden, daß für den Betreffenden die Beseitigung eines anderen von Nutzen war? Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr. [...] Entweder erkennt auch der nationalsozialistische Staat die Grenzen an, die ihm von Gott gesetzt sind, oder er begünstigt einen Sittenverfall, der auch den Verfall des Staates nach sich ziehen würde.”

Energischer Protest einerseits, jedoch gleichzeitig die Loyalität zum nationalsozialistischen Staat verkündend, die vorhandene Mißstimmung nicht als eine Mißachtung nationaler und politischer Notwendigkeiten aufzufassen, war das Charakteristikum kirchlich-evangelischen Protests in Württemberg. An keiner Stelle und zu keinem Zeitpunkt verließ die Amtskirche den Weg der vertraulichen Eingabe. Dass der Brief Wurms an den Reichsinnenminister in Abschriften bald im ganzen Reich kursierte, lag nicht in der Absicht seines Verfassers. Eingabe und Protest folgten in immer kürzeren Zeitabständen aufeinander, am 25. Juli an den Chef der Reichskanzlei Heinrich Lammers, am 23. August an Reichsjustizminister Gürtner, am 9. September an den württembergischen Reichsstatthalter Murr, am 21. September an den Staatssekretär Conti im Reichsinnenministerium, am gleichen Tag an Ministerialdirektor Dill im Württembergischen Innenministerium, am 22. Oktober an den Befehlshaber des Wehrkreises V in Stuttgart General Osswald. Ende Oktober 1940 verfasste Landesbischof Wurm eine Denkschrift für das Oberkommando der Wehrmacht über Planwirtschaftliche Maßnahmen in Heil- und Pflegeanstalten. Was die Wirksamkeit der Proteste der Evangelischen Kirche angeht, fällt eine Bewertung schwer, waren sie doch keine klare Kritik am System , sonder richteten sich punktuell gegen einzelne Maßnahmen. Eine direkter und schneller Erfolg war den Protesten auch nicht beschieden. Sie machten den staatlichen und parteiamtlichen Stellen auf Reichsebene wie auf Landesebene aber deutlich, dass die Maßnahmen bei Kirchen und Teilen der Bevölkerung auf Ablehnung stießen und eine Geheimhaltung der „Euthanasie“-Morde nicht möglich war.