Für die Opfer der "Euthanasie"-Verbrechen im Nationalsozialismus Baden-Württemberg

In Grafeneck begann im Jahr 1940 die sogenannte Aktion "T4". In einem Jahr wurden hier unter nationalsozialistischer Herrschaft 10.654 Menschen mit geistigen Behinderungen oder psychischen Erkrankungen ermordet. Heute existiert in Grafeneck eine Gedenkstätte und ein Dokumentationszentrum zur Erinnerung an die Opfer und gegen das Vergessen in den Diskussionen der Gegenwart.

Panoramabild des Schlosses Grafeneck im Jahr 1930. Zu sehen ist das drei-flügelige Schloss auf einer Anhöhe, umgeben von Wald.
Das Foto zeigt einen von der Reichspost der T4-Organisation überlassenen roten Bus. Die Aufnahme entstand bei einer der Deportationen von Heimbewohnern aus der Stiftung Liebenau nach Grafeneck im Herbst 1940. Im Vordergrund zu sehen sind mehrere Personen, darunter zwei Männer in weißen Mänteln, die Formulare auszufüllen scheinen. Am rechten Bildrand steht ein Mann mit einer weißen Schürze. Im Hintergrund steht ein roter Bus.
Zur Landwirtschaft gehörendes Gebäude ("Remise"), in das zur Jahreswende 1939/40 eine Gaskammer eingebaut wurde. Das Bild zeigt ein längliches, weißes Gebäude. Links am Gebäude befindet sich eine Tür, rechts daneben drei Tore aus Holz. Die beiden mittleren Tore sind geöffnet.

Else von Löwis 1880-1961

NS-Frauenschaftsführerin

Else von Löwis sitzend vor einer bewachsenen Mauer. Das Bild zeigt eine ältere Frau mit dunklen Haaren. Sie trägt zwei Halsketten und weiße Kleidung. Sie lächelt in die Kamera. Im Hintergrund befindet sich eine graue, mit Pflanzen bewachsene Mauer.

Die Proteste gegen die Morde in Grafeneck erfassten auch Teile der NSDAP. Überliefert ist hier der Brief der württembergischen Gutsherrin und NS-Frauenschaftsführerin Else von Löwis. Ihre Empörung über die Morde von Grafeneck und ihre Ausführungen über die Begleitumstände und die in Württemberg dadurch verursachte Stimmung gelangten über Umwege zu Himmler, Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei. Ihr Brief vom November 1940 spiegelt anschaulich das Dilemma überzeugter Nationalsozialisten wider. Daneben, wie bei den Protesten des württembergischen Landesbischofs Wurm oder denen des westfälischen Bischofs von Münster, Graf von Galen, im August 1941, taucht eine immer wiederkehrende Frage auf: ''Wohin wird dieser Weg uns führen und wo wird die Grenze gezogen werden"

Und weiter:

”Sie wissen sicher von den Maßnahmen, durch die wir uns zur Zeit der unheilbar Geisteskranken entledigen, aber vielleicht haben Sie doch keine rechte Vorstellung davon, in welcher Weise und in welch ungeheuerlichem Umfang es geschieht und wie entsetzlich der Eindruck ist im Volk! Hier in Württemberg spielt sich die Tragödie in Grafeneck auf der Alb ab, wodurch dieser Ort einen ganz schauerlichen Klang bekommen hat. Anfangs wehrte man sich instinktiv dagegen, die Sache zu glauben, oder hielt die Gerüchte zum mindesten für maßlos übertrieben. Mir wurde noch bei unserer letzten Arbeitstagung auf der Gauschule in Stuttgart Mitte Oktober von ”gutunterrichteter” Seite versichert, es handle sich nur um die absoluten Kretinen, und die ”Euthanasie” werde nur in ganz streng geprüften Fällen angewendet. Jetzt ist es ganz unmöglich, diese Version noch irgendeinem Menschen glaubhaft zu machen, und die absolut sicher bezeugten Einzelfälle schießen wie Pilze aus dem Boden.
Was kann ich noch glauben? Wohin wird dieser Weg uns führen und wo wird die Grenze gezogen werden? Es sind ja durchaus nicht nur die hoffnungslos Verblödeten und Umnachteten, die es trifft, sondern, wie es scheint, werden allmählich alle unheilbar Geisteskranken - daneben auch Epileptiker, die geistig gar nicht gestört sind - erfaßt. Darunter befinden sich vielfach Menschen, die am Leben noch Anteil nehmen, ihr bescheidenes Teil Arbeit leisten, die mit ihren Angehörigen in brieflichem Verkehr stehen, Menschen, die, wenn das graue Auto der SS kommt, wissen, wohin es geht und was ihnen bevorsteht. Und die Bauern auf der Alb, die auf dem Felde arbeiten und diese Autos vorbeifahren sehen, wissen auch, wohin sie fahren und sehen Tag und Nacht den Schornstein des Krematoriums rauchen. [...] Genügte es denn nicht, daß man sie sterilisiert hat, und ist es nicht entsetzlich zu denken, daß über diesen allen nun das Damoklesschwert von Grafeneck hängt?”