Die Opfer von Grafeneck
Lebens- und Leidenswege
In Grafeneck wurden zwischen Januar und Dezember 1940 zwischen 10.500 und 11.000 Menschen ermordet. Erstmalig festgestellt wurde diese Zahl der Opfer bereits 1949 durch das Schwurgericht Tübingen in einem Prozess, der gegen eine kleine Zahl der Täter geführt wurde. Ganz präzise nennen die Unterlagen die Zahl von 10.654 Opfern - Männer und Frauen, Alte, Erwachsenen, Jugendlichen und Kinder. Bis vor wenigen Jahren war dies eine unvorstellbare aber auch anonyme Größe. Heute - 80 Jahre nach ihrem Tod - sind über 9.600 der Opfer wieder namentlich bekannt. Ein Opferbuch hält ihre Namen fest.
So manch einem Opfer sind inzwischen biographische Arbeiten oder Skizzen gewidmet. Sie stammten aus dem gesamten heutigen Bundesland Baden-Württemberg und weit darüber hinaus. Sie wurden ausgelöscht und ihre Individualität negiert, weil sie nicht den Nützlichkeitskriterien der Täter und vielleicht auch der Zuschauer dieses Verbrechen genügten: Unnütze Esser, Defektmenschen, Ballastexistenzen, so das Vokabular der Zeit und nicht nur der NS-Zeit. Die Opfer waren Menschen mit geistiger Behinderung oder psychischer Erkrankung, denen eine geringe Leistungs- und Arbeitsfähigkeit attestiert wurde, Menschen, die von der Justiz als zurechnungsunfähig oder gemeinschaftsunfähig erklärt waren, Menschen , die als Langzeitpatienten galten, Menschen die als Juden nicht den rassischen Normen genügten. Alle hatten sie gemein, dass sie in Anstalten waren und damit der Volksgemeinschaft in ihrem Existenzkampf, dem Kriege, hinderlich waren.
Allein in Württemberg und Baden waren nahezu 40 einzelne Anstalten von den Deportationen und ”Euthanasie”-Morden betroffen. Die meisten Einrichtungen, vor allem die badischen und württembergischen, sind heute bekannt; waren es Anfang der neunziger Jahre 35 Anstalten, sind heute bereits 49 bekannt. Um ihre regionale und administrative Einordnung und Vielfalt zu verdeutlichen, werden die verschiedenen Anstalten aufgeführt und die Zahl der Opfern vermerkt. Die Zahlen beziehen sich hierbei , und dies muss ausdrücklich betont werden, auf die Opfer von Grafeneck. Würde man die Opfer aus Württemberg und Baden hinzuzählen, die im Jahr 1941 im hessischen Hadamar bei Limburg ermordet wurden, würden deren Zahl noch höher liegen.
Betont werden soll ebenfalls, dass alle Zahlen nur als vorläufig anzusehen sind und trotz der scheinbaren Präzision Unschärfen aufweisen können. Sie sind deshalb nur als Annäherungswerte aufzufassen. Sie stützen sich hauptsächlich auf das statistische Material des 1949 vor dem Schwurgericht Tübingen verhandelten Grafeneck-Prozesses, die Wochenberichte württembergischer Anstalten an das Innenministerium in Stuttgart sowie die Jahresberichte der einzelnen Anstalten.