Angehörige und Verwandte
Ein weitgehend unerforschtes Kapitel stellt das Verhalten der Angehörigen dar. Das Wissen über die Tötungen in Grafeneck auf der Schwäbischen Alb war weit über die Anstaltsmauern hinaus gedrungen. Hier ist eine Wertung, noch gar eine quantitative, nahezu unmöglich. Wie viele Angehörige wussten oder ahnten vom drohenden Schicksal, das den Patienten zugedacht war? Wer wusste von der möglicherweise auch noch so geringen Chance, Patienten rechtzeitig nach Hause zu holen? Wie viele verzichteten bewusst auf diese Option, wie viele wurden vom Tod ihres Angehörigen vollkommen überrascht? All dies lässt sich vermutlich nicht mehr klären.
Eines der frühen Schriftstücke ist der Brief der Schwester eines in Grafeneck getöteten Mannes vom 15. Februar 1940. Der Bruder war am 1. Februar aus der Epileptikeranstalt Pfingstweide nach Grafeneck verlegt worden. Der Brief war an die Anstaltsleitung gerichtet:
"Lieber Hausvater! Anbei sende ich Ihnen eine Abschrift von der Landes-Pflegeanstalt Grafeneck.
Groß war der Schrecken, als wir diesen Brief gestern mit den Sterbeurkunden bekamen. Was soll ich davon denken? Ich möchte Sie innigst bitten, mir die verschiedenen Fragen zu beantworten. Wie kam Wilhelm von der Pfingstweide weg? Gesund oder krank? Was hatten Sie für einen Eindruck v. W. Ging er schwer von dort? Wie viele kamen nach Grafeneck? Wilhelm hat doch so eine starke Natur, und er kann doch etwas vertragen, denn er ist doch eine ganz zähe Natur. Wie kommt es, dass in den Sterbeurkunden z.B. steht, Religion unbekannt? Ob Vater oder Mutter noch da sind, auch unbekannt. Wenn doch die Papiere von Wilhelm mitgekommen sind, dann wäre die Sache doch geklärt gewesen. Die ganze Sache kommt mir so komisch vor. Ich weiss gar nicht, was ich denken soll. Alles ist in mir wund. Wäre der liebe gute Wilhelm dort bei Ihnen lieber Hausvater gestorben, unter Ihren liebevollen Händen, dann würde ich mich beruhigen, so aber mach ich mir allerhand Gedanken. Niemand hat den lieben Kerl verstanden, die liebe gute Mutter und Schwester, wo ihn doch gerne hatten, können ihn nicht mehr besuchen. Denn Angina ist doch nicht ansteckend, und wieso ist dort ein Krematorium? Müssen die Leute dort krank werden? Lieber Hausvater, Ihnen darf ich das ja alles schreiben.”
Ein Brief aus Dettingen an der Erms vom 14. Oktober 1940:
„An die Verwaltung der Heilanstalt Weissenau
Betr.: Der Zurückzahlung der zuviel bezahlten Verpflegungsgelder von 39 Tagen im Betrage von 159,51 Reichsmark für meinen Sohn 0.B.
Lt. Ihrer Mitteilung vom 23. August ist mein Sohn am 22. August aus ihrer Anstalt weggenommen worden, um seinen letzten Gang anzutreten. Trotz dieser langen Zeit her ist mir obiger Betrag noch nicht zurückerstattet worden, sollte dies nicht nächster Tage geschehen, wäre ich genötigt, an anderer Stelle vorstellig zu werden. Es ist ja eine ungeheure Zumutung, etwas davon zu glauben, was einem in dieser Sache vorgemacht wird, denn landauf und -ab wird mit Grauen und Entsetzen davon gesprochen was in Grafeneck vor sich geht. Der Dank des Vaterlands für ehemalige Frontkämpfer kann jedenfalls nicht mehr krasser zum Ausdruck kommen als durch solchen Heldentod. Und dann kann ja das kaum mehr überboten werden, wenn man die Kühnheit besitzt noch zu schreiben, alle ärztlichen Bemühungen seien leider ohne Erfolg geblieben. Ein höherer Richter wird aber jedenfalls zu seiner Zeit sein Urteil fällen in dieser Sache. Der tief gebeugte Vater L.B.”
Überliefert ist auch der Bericht eines Mannes, dessen Schwester in Grafeneck ermordet wurde. Die Todesurkunde hatte ihn aus Hartheim bei Linz erreicht, eine der Tötungsanstalten der „Euthanasie”, mit der Grafeneck regelmäßig, um die Angehörigen zu täuschen, einen Aktenaustausch vornahm. Bemerkenswert ist, dass der Mann durch sein Nachhaken, die Heilanstalt Grafeneck genannt bekam und er dort einen Besuch abstattete:
„Umso entsetzter waren wir, als wir kurz darauf von der Anstalt Winnental die Nachricht erhielten, daß unsere Schwester verlagert worden sei. Daraufhin unternahmen wir energische Schritte bei der Anstaltsdirektion, die uns nichts anderes sagen konnte, als daß die Kranken angeblich nach Hartheim-Niederdonau mit noch mehr uns bekannten anderen Bekannten laut Erlaß des Reichsverteidigungskommissars verlegt worden seien, und müßten wir warten, bis wir Nachricht erhielten. Nun depeschierten wir sogleich mit Hartheim, daß wir sofort dorthin abreisen würden. Inzwischen kam aber schon eine Depesche von Hartheim, daß die Kranke an Lungenentzündung verstorben sei, die Urne sei unterwegs. Wie uns aber eine Anstaltsschwester von Winnental erklärte wurden die Kranken gar nicht verlegt, sondern wurden haufenweise in Omnibussen vollgepfropft betäubt und in Grafeneck a. d. Schwäbischen Alb in großen Öfen verbrannt. Ich selbst habe mich von dem Schloß Grafeneck persönlich überzeugt und habe versucht, den dortigen Arzt zu sprechen, welcher sich jedoch nicht sehen ließ. Dafür aber wurde ich von der Gendarmerie, mit Hunden bewacht, empfangen, die mir rieten, sogleich vom Tor wegzugehen, andernfalls laufe ich Gefahr, dort bleiben zu müssen.”
Durch den so genannten Sperrerlass des Württembergischen Innenministeriums vom 9. September 1940 wurde verfügt, dass Patienten nicht ohne ausdrückliche Genehmigung des Innenministeriums entlassen werden durften. Dies sollte verhindern, dass Angehörige auf das drohende Schicksal der Patienten auch und gerade durch die Anstaltsleitung aufmerksam gemacht und auf Wunsch dann in die Familie entlassen wurden. Ab November 1940 war es den Anstalten ausdrücklich verboten, die Angehörigen der verlegten Patienten zu benachrichtigen. Noch ein weiterer Fall soll geschildert werden. Auf ein Schreiben vom 27. Januar 1941 an die Württembergische Landesfürsorgeanstalt Reutlingen reagierte die Anstaltsleitung nicht, vielmehr wurde der Brief des Mannes, dessen Ex-Frau nach Grafeneck verlegt und dort ermordet worden war, vom dortigen Direktor an die Landesfürsorgebehörde in Stuttgart weitergeleitet.
Aus dem Zusammenhang geht hervor, dass zuvor eine Todesnachricht mit einem Trostbrief und einer gefälschten Todesursache den Mann erreicht hatte.
„Nach längerer Krankheit ist es mir erst jetzt möglich, nochmals wegen dem Schicksal meiner früheren Frau Lina N., geb. S., bei Ihnen Nachforschungen anzustellen. Ich habe mich mit meinem Schwager, Herrn Hermann S., dem Bruder meiner Frau, wohnhaft in Stuttgart-W., Bismarckstr. 41, in Verbindung gesetzt, der mit mir darin übereinstimmt, dass es keine deutsche Behörde gibt, die nicht Aufzeichnungen über den Verbleib eines Kranken macht, um bei ev. Anfragen auch Auskunft geben zu können. Mein Schwager und ich sind Parteimitglieder und entschlossen, die Sache auf amtlichem Wege weiter verfolgen zu lassen, sofern Sie meiner nochmaligen Bitte um Aufschluss über den Aufenthalt meiner früheren Frau nicht entsprechen sollten.
Heil Hitler! gez. Arthur N.”
Die Briefe machen klar, dass Verwandte und Bevölkerung den amtlich beglaubigten Angaben oft keinen Glauben schenkten. Aus vielen Briefen von Angehörigen spricht Empörung und Wut, aber auch Resignation.