Wooden Archives
Am 15.01.2023 schrieb Dr. Wolfgang Sannwald, Kreisarchivar des Landkreises Tübingen, eine E-Mail an den Künstler Felix Votteler. Der Inhalt der Nachricht war ein Foto, darunter die Worte „Grafeneck heute“. Auf dem Foto zu sehen war der Stamm einer gefällten Esche.
Vom Stamm zum Objekt
Am Anfang stand der Besuch des Künstlers Felix Votteler in der Gedenkstätte Grafeneck. Eine alte Esche war jüngst gefällt, der Hauptstamm in drei große Abschnitte geteilt worden. Votteler bekam die Erlaubnis, das Holz zu bearbeiten und der Erinnerungsarbeit in Grafeneck eine neue Dimension hinzuzufügen. Mit einem LKW wurden die je 550 Kilo schweren Stücke des Stammes nach Tübingen transportiert.
Die Auseinandersetzung mit dem Material und Grafeneck als Ort des Verbrechens brauchte Zeit. Über Monate hinweg lagen die Stammstücke auf einer Wiese. Oft kehrte Votteler zu ihnen zurück und betrachtete sie – bis vor seinem inneren Auge allmählich Bilder von möglichen Objekten entstanden. Zunächst sägte er mit einer Motorsäge Stücke aus dem Stamm. In dessen Inneren wurden dabei Risse, Äste, Löcher und Maserungen sichtbar, die den Prozess im Folgenden mitdefinierten. Aus den Bedingungen des Materials entwickelte Votteler eine immer klarere Vorstellung späterer Formen. Die beiden kleineren Objekte sind quer zur Wuchsrichtung, die große Vase längs dazu angeordnet.
Nach dem Zuschneiden der Rohlinge verarbeitete Votteler diese auf der Drechselbank weiter. Er versetzte das Holz in Rotation, brachte es mit von Hand geführten Messern, sogenannten Drechseleisen, in eine runde Form und höhlte diese anschließend bis auf wenige Millimeter Wandstärke aus. Das Aushöhlen erfüllt nicht nur einen ästhetischen Zweck, sondern ermöglicht dem Holz seinen Spannungen nachzugeben, sich zu verziehen und seine ganz eigene Form anzunehmen. Die endgültige Form ist somit ein Zusammenspiel aus künstlerischer Arbeit und Material. Schließlich wurden die Objekte gebürstet oder geschliffen und teils mit Eisenoxiden, Kalk oder Ölen behandelt.
Konzept
Felix Vottelers Bestreben ist es, einen zeitgenössisch-handwerklichen Zugang zum Ort Grafeneck und dessen Vergangenheit als Vernichtungsstätte zu schaffen.
Grafeneck und seine Umgebung sind geprägt von vielen alten und großen Bäumen, die den Wandel der Zeiten überdauert haben. Sie standen hier bereits, als Busse die ersten Opfer zur Gaskammer brachten. Sie wurden ausgerechnet 1940, dem Jahr in dem 10.654 Menschen ermordet wurden, zum Naturdenkmal erklärt. Die Allee und die meisten ihrer Bäume blieben erhalten, als die letzten Täter Grafeneck verließen. Sie waren die Zeugen dieses Ortes und seiner Geschichte - auch in den folgenden Jahrzehnten, in denen zu Grafeneck geschwiegen wurde.
Die Arbeit mit dem Holz erinnert uns daran, dass die Bäume die Geschichte auch auf ihre Art erzählen können. Nicht zuletzt mit der Aufnahme der Abgase aus den Krematorien haben sich die einstigen Gräueltaten auch physisch in sie eingeschrieben. Die Bäume bilden somit ein Archiv Grafenecks – ein „Wooden Archive“. Die gefertigten Objekte wiederum ermöglichen den Betrachtenden durch Formen, Texturen und Farben einen ganz eigenen, sinnlich erfahrbaren Zugang zu Grafeneck.
Grafeneck ist heute ein Ort des Erinnerns und Forschens. Ein wichtiges Ziel ist es, die Namen und Geschichten der Opfer zu recherchieren, zu prüfen und zu dokumentieren. Für Votteler symbolisieren die offengelegten Jahresringe zum einen die individuellen Geschichten der Opfer - zugleich repräsentieren sie auch die kleinschrittige und ausdauernde Arbeit der Gedenkstätte. Wie ein Baum Jahr um Jahr wächst, wächst das Wissen über Grafeneck.
Der Künstler
Felix Votteler (*1988) ist ein junger Tübinger Künstler, der konzeptionell und formend mit Holz arbeitet.
In seiner Kindheit hatte er in der Schreinerei seines Vaters schon früh Zugang zu Holz als Werkstoff, allerdings dauerte es 30 Jahre bis er seine ganz eigene Form der Auseinandersetzung mit dem Material fand.
Mittlerweile fertigt Felix Votteler an seiner Drechselbank filigrane, dünnwandige Gefäße und Objekte aus Holz. Als Ausgangsmaterial nutzt er Holz von Bäumen, die aus gesundheitlichen oder baulichen Gründen gefällt werden müssen. Ihm ist wichtig, dass die Bäume aus der Region stammen und nicht aus forstwirtschaftlicher Nutzung kommen.
Einen großen alten Baum zu fällen nur um damit zu arbeiten würde ihm nicht in den Sinn kommen. Das Holz verarbeitet er frisch, man nennt es auch Grünholz. Dies hat zur Folge dass die ursprünglichen Formen sich beim Trocknen verwerfen, sich dem achsensymmetrischem Entziehen und Spannungen im Holz sich Raum geben. Im Gegensatz zum konventionellem Holzhandwerk setzt er Fehlstellen und Äste bewusst in Szene.
Mit vielen Bäumen sind individuelle Geschichten verbunden, sei es der Baum im Garten der Kindheit oder auf dem täglichen Weg. Andere Bäume, sehr alte Bäume meist, haben jedoch eine kollektive Geschichte, standen an geschichtsträchtigen Orten und sind für Votteler Anreiz zur Auseinandersetzung mit dem was war und dem was die Bäume erlebt haben.
Felix Votteler will durch seine Arbeit Teile dieser Bäume und ihrer Geschichten erhalten.
Er entwirft individuelle Konzeptionen bildet Formen, Texturen, Oberflächen die sich im Dialog mit dem Baum, seinem Standort und dessen Geschichte befinden