Kunstprojekt 10.654
In 11 Monaten wurden in Grafeneck 10654 Menschen ermordet und verbrannt. Zum Gedenken an die Opfer wurden 10654 Figuren im Dokumentationszentrum aufgebahrt. Lassen Sie sich von einer Figur ansprechen. Geben Sie einem Opfer wieder einen Ort, eine Stimme. Setzen Sie sich ein für ein friedliches Zusammenleben von Menschen mit unterschiedlichen Lebensentwürfen und Voraussetzungen.
Gedenken. Hoffnung. Mahnung.
Vom 18. Januar bis zum 13. Dezember 1940 wurden in Grafeneck, Baden-Württemberg, 10654 Menschen systematisch in einer auf dem Schlossgelände eingerichteten Gaskammer ermordet. Im Rahmen der „Aktion T4“ wurden behinderte oder psychisch erkrankte Kinder, Frauen und Männer aus Heil- und Pflegeeinrichtungen Süddeutschlands in grauen Bussen nach Grafeneck gefahren und dort von NS-„Euthanasie“-Verbrechern umgebracht. Dem Gedenken an die Ermordeten dient die Gedenkstätte Grafeneck.Derzeit ist im Informationszentrum neben der ständigen Dokumentation eine bildnerische Installation zu sehen. Jedes der 10654 Opfer von Grafeneck ist durch eine Figur aus Terrakotta vertreten. Jede Statuette wurde einzeln modelliert und mit einem individuellen Gesicht versehen.
Das bildnerische Projekt "Grafeneck 10654"
Obwohl ich seit 1968 in der Nähe von Grafeneck lebe und arbeite, erfuhr ich erst in den 80er Jahren vom Verbrechen in Grafeneck.
Dass dort 10654 Menschen in 11 Monaten ermordet wurden, erschütterte mich zutiefst. Lange Jahre suchte ich nach einer Form, die unfassbare Zahl der Opfer erfahrbar zu machen, fand aber keine Lösung, die mich befriedigt hätte. So blieben Skizzen und erste Ansätze liegen. Erst nach meiner Pensionierung habe ich die Arbeit an dem Projekt wieder aufgenommen.
Die Installation „Zählen lernen, Zahlen begreifen“ war eine erste größere Arbeit zum Thema. Sie versucht, die Menge der Ermordeten durch Punkte, Papierblätter und Archiv-Ordner fassbar zu machen. Ein Blatt mit 100 gestempelten Punkten steht für 100 Opfer in der Gaskammer. Ein Blatt mit 20 Punkten steht für die Insassen eines grauen Busses. Ein gedruckter Punkt steht für ein Opfer. Ein Stapel von 10654 Blättern versinnbildlicht die Gesamtzahl der in der Grafenecker Gaskammer Ermordeten.
Diese Arbeit macht vor allem die Verwaltungsseite des systematischen Mordens deutlich. Doch den Opfern der Barbarei wurde sie meines Erachtens noch nicht gerecht. Im nächsten Schritt begann ich, statt mit Stempelpunkten mit Terrakotta-Figuren zu arbeiten, die für die Opfer stehen. Durch ihre haptische Präsenz ermöglichen sie größere Nähe. Sie nehmen Raum ein, sind figurativ gegenwärtig, begreifbar.Die ersten Statuetten waren noch stark vereinfacht, waren allgemeines Symbol für Menschen überhaupt. In der weiteren Beschäftigung mit der menschenverachtenden „Aktion T4“ und in der Auseinandersetzung mit dem Schicksal einzelner Ermordeter kam ich zu der Überzeugung, dass die Opfer unbedingt Individualität bekommen müssen, um ihre Würde wieder zu erlangen.Jede Figur wird daher nun einzeln modelliert, erhält ein individuelles Gesicht. So wird das einzelne Opfer erlebbar und erfühlbar, so kann Begegnung stattfinden.
Auf dieser Basis kam es zu meiner zweiten größeren Arbeit in diesem bildnerischen Projekt.Zum Gedenken an den Beginn der Mordaktion in Grafeneck am 18. Januar 1940 wurde am 18. Januar 2015 in Reutlingen eine Ausstellung eröffnet.Über 2.000 Terrakotta-Figuren lagen ausgebreitet auf dem Boden der Galerie „Pupille“ in Reutlingen (Abb. 4). Das war schon eine sehr erschütternde Menge; doch dies entsprach immer noch weniger als einem Fünftel der Ermordeten von Grafeneck.
Das Projekt hat im Dokumentationszentrum der Gedenkstätte Grafeneck seine Fortsetzung gefunden.
Die Installation soll nun alle 10654 Opfer berücksichtigen. Dafür musste aus räumlichen Gründen eine andere Form entwickelt werden.
Eine Kostruktion aus Metallplatten baute ich vor der Fensterfront im Großen Raum des Dokumetnationszentrums auf. Jede Platte sollte nach und nach mit 43 oder 44 Figuren belegt werden.
Im Dezember 2015 lagen fast 4000 Stuatetten in der Stellage vor dem großen Fenster. Zur Erinnerung an das Ende der Mordaktion „T4“ in Grafeneck vor 75 Jahren, gab es eine Gedenkveranstaltung und ein Konzert mit der Uraufführung von Thomas Fortmanns Komposition „Grafeneck 1940“.
Seit dem 19- September 2016 ist jede der 245 Metallplatten mit Figuren belegt. 10654 Terrakotta-Figuren erinnern an die Opfer von Grafeneck. Eine Bedrückende Wand ist entstanden, eine Barriere, die den Raum verdunkelt und den Blick ins Freie versperrt.In seiner ersten Phase soll das Werk die unvorstellbare Menge der Opfer erfahrbar machen und die mörderische Brutalität einer ideologischen Verblendung zeigen. Es möchte aber auch an das einzelne Schicksal der ausgelöschten Toten erinnern. Den Opfern soll wieder ein Gesicht gegeben werden. In der zweiten Phase soll das Werk nun nach und nach eine neue Form gewinnen. Die Besucher können sich jetzt am Projekt beteiligen. Sie dürfen Figuren in die Hand nehmen und können auf diese Weise ein Gegenüber erfahren, sich von ihm ansprechen lassen. Es kann sich ihnen dabei etwas vom Schicksal der Dargestellten erschließen. Zur Erinnerung dürfen die Besucher eine Figur mit nach Hause nehmen. Sie geben damit einem Opfer, nach seinem anonymen Asche-Dasein, wieder eine Identität, eine Wohnung und eine Stimme, denn mit dem Geschenk verbindet sich die Hoffnung, dass die Besucher eine Art Patenschaft übernehmen und sich gegen Ausgrenzung und Stigmatisierung von Menschen einsetzen. Die Installation in Grafeneck ist also nicht auf Dauer angelegt. Sie ist nicht als ortsfestes, sondern als „diffundierendes Denkmal“ gedacht. Die Figuren sollen sich in der Welt verbreiten und an vielen Orten als Botschafter für ein friedliches Zusammenleben der Menschen wirken. Je mehr Besucher sich von einer Figur ansprechen lassen und ihr ein neues Zuhause geben, desto mehr löst sich die Installation auf. Licht kehrt tatsächlich wieder zurück in den Raum, die Dunkelheit nimmt ab, der Blick wird langsam wieder frei.Viele Figuren haben inzwischen schon ihre „Paten“ gefunden. So ist zu hoffen, dass jenes Anliegen verwirklicht wird.
Das in Grafeneck Uraufgeführte Gedenkkonzert für die Opfer von Grafeneck wurde inzwischen auch in Arcidosso in Italien gegeben. Eine weitere Aufführung wird im März 2018 in Montreal in Kanada stattfinden.Die Aufführung des Gedenkkonzerts werden jeweils von einer Ausstellung begleitet. Da die Installation im Dokumentationszentrum Grafeneck für diesen Ort konzipiert ist, wird in den zusätzlichen Ausstellungen mit Fotografien der Figuren aus Grafeneck gearbeitet.Fotos von Figuren wurden auf Transparentfolie kopiert; die Folien hängen in großen Metallrahmen und füllen so den Raum. Durch die Überlagerung der Folien und durch die beim Gehen wechselnden Blickaschen entstehen variierende Bilder, die auf neue Weise die Menge der Opfer erfahrbar machen.
Ein weiterer mit dem Projekt verbundener Wunsch ist, dass das Schloss Grafeneck zu einem Ort vielfältiger Begegnung wird. Für das Schloss wird derzeit eine neue Nutzung geplant. Ermöglichen würde ein „Begegnungszentrum Schloss Grafeneck“ die angemessene Verbindung eines Gedenkorts mit einem Ort für Tagungen und Seminare zum Miteinander von Menschen mit unterschiedlichen Voraussetzungen und Lebensentwürfen; auch ein Platz für gemeinsames Musizieren, Malen, Theater-Spielen, Kochen… böte sich hier.Ein „Begegnungszentrum Schloss Grafeneck“ könnte die menschenfreundliche Alternative zur mörderischen „Aktion T4“ und zur barbarischen Ideologie sein. Es könnte zeigen, wie heute Lösungen gesucht und gefunden werden, um Menschen zu integrieren. Diese Idee setzt dem Grauen Befreiendes und Humanes entgegen.Viele Besucher wollen spenden. Die Spenden gehen zu 100 Prozent in die Arbeit der Gedenkstätte ein.Februar 2018, Jochen Meyder