Ziele und Aufgaben
Die Gedenkstätte Grafeneck ist heute Erinnerungs- und Mahnstätte (1) für die über 10.600 Opfer der nationalsozialistischen „Euthanasie”-Verbrechen in Südwestdeutschland – und damit für viele tausende Menschen ein Ort individueller Trauer und kollektiven Gedenkens.
Die Gedenkstätte Grafeneck versteht sich als Dokumentations- und Forschungsstätte (2). Sie bewahrt das historische Wissen und macht es der Öffentlichkeit zugänglich. Dies geschieht in erster Linie durch Veröffentlichungen, Vorträge, Lesungen, durch eine Wanderausstellung sowie insbesondere durch das 2005 geschaffene Dokumentationszentrum. Träger der Gedenkstättenarbeit, die in enger Zusammenarbeit mit der Samariterstiftung Nürtingen und dem Samariterstift Grafeneck geschieht, ist der 1994 gegründete Verein Gedenkstätte Grafeneck e.V.
Zum dritten ist die Gedenkstätte Grafeneck Bildungsstätte (3) mit den Schwerpunkten historische und politische Bildungsarbeit. Informiert wird hierbei über das Denken sowie die konkreten Mechanismen, die nach einer langen Vorgeschichte zu den Verbrechen von 1940 führten. Eine große Zahl nationaler und internationaler Jugend- und Erwachsenengruppen besuchen jährlich die Gedenkstätte und das Samariterstift Grafeneck.
Die Gedenkstätte erfüllt öffentliche und humanitäre Aufgaben (4) als Auskunfts- und Informationsstelle für Städte und Gemeinden ebenso wie für Gerichte in Sachen Entschädigung und Nachlass. Durch eine verstärkte Wahrnehmung der Gedenkstätte in der Öffentlichkeit nimmt seit einigen Jahren auch die Zahl der Verwandten und Nachkommen der Opfer zu, die sich an die Gedenkstätte wenden. Nach einer jahrzehntelangen verweigerten Erinnerung, aber auch Verdrängung und Tabuisierung dieses Teils der NS-Verbrechen bahnt sich hier ein tiefgreifender Wandel an.
Die Aufgaben bleiben somit auch in der Zukunft: die Bewahrung und Zugänglichmachung der Dokumente des damals Geschehenen, das Gespräch mit Angehörigen der Opfer, die Weitergabe der Erinnerung an Besucher – nicht nur als Information über ein historisches Ereignis, sondern im Sinne einer kritischen Bildungsaufgabe. Themen wie die Bioethik- und neue „Euthanasie“-Debatte aber auch politischer Extremismus, Rassismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit unterstreichen die Wichtigkeit einer Auseinandersetzung mit dem Denken und den Vorgängen, die zur Ermordung von 10.654 Menschen in Grafeneck geführt haben.
Trotz einer negativ besetzten Geschichte kann Grafeneck – Gedenkstätte und Behinderteneinrichtung – die Bedeutung der Demokratie mit ihren Konzepten von Menschenwürde und Menschenrechten unterstreichen und demokratisches Bewusstsein fördern. In dieser Perspektive bildet die Gedenkstätte Grafeneck und Dokumentationszentrum somit die Schnittstelle von Erinnerung, historisch-politischer Bildung, Wissenschaft und Begegnung. Es ist diese Gleichzeitigkeit von zentraler Gedenkstätte für die Opfer der NS-„Euthanasie“ in Baden-Württemberg und der Existenz des Samariterstifts als einer modernen Einrichtung der Behindertenhilfe und Sozialpsychiatrie, die die Singularität dieses Ortes nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch in der Gegenwart ausmacht.